Sehnsucht nach Offenheit
Beim Jazz geht es um nichts weniger als die « spirituellen Grundlagen unseres Lebens », findet der Musikwissenschaftler Uwe Steinmetz.
In einem Essay erkundet er die vielfältigen Berührungspunkte von Jazz und Spiritualität.
Auch der Musikgenuss kommt dabei nicht zu kurz.
Von René Weisstanner
Wer bis anhin der Meinung war, dass Jazz und Spiritualität nicht viel miteinander zu tun haben, sollte das Buch von Uwe Steinmetz lesen. Der Autor ist ein begnadeter Jazzsaxophonist und profilierter Musikwissenschaftler. In seinem neu erschienenen Essay lädt er dazu ein, sich mit ihm auf den Weg zu machen zu den Orten, wo sich Jazz und Spiritualität begegnen. Die Suche führt von den Anfängen des Jazz durch alle Epochen hindurch bis in die Gegenwart. Und weil man über Jazz nicht reden kann, ohne ihn zu hören, ist das Buch mit 50 Musikbeispielen versehen, die während der Lektüre mittels QR-Code hörbar werden.
Es geht in dem Buch also nicht nur darum, die spirituelle Dimension des Jazz auszuloten, sondern von der Musik ergriffen zu werden. Damit Jazz erlebt werden kann, braucht es den Dialog zwischen Musikerinnen und Hörern. Also lädt Steinmetz in seinem Vorwort « zum genussreichen gemeinsamen Musikhören» ein. Nach einem Auftakt, in dem der Stellenwert des Hö rens als Brücke zur Spiritualität betont wird, geht es in den drei Hauptkapiteln «Fire», « Truth» und « Prayer» um musikalische Leidenschaft, künstlerische Authentizität und die Sehnsucht nach Offenheit und Freiheit. Steinmetz gelingt es, seine Leserschaft hineinzunehmen in einen Denk- und Wahrnehmungsprozess: Noch mehr als bei jeder guten Musik geht es bei dem aus dem Augenblick heraus entstehenden Jazz an die Substanz, um die « spirituellen Grundlagen unseres Lebens », oder mit dem Pianisten Nik Bärtsch gesprochen: « um Leben und Tod ». So erfährt man zum Beispiel, wie die leidvolle Erfahrung der Sklaven sich mittels ihrer aus den Ursprungsländern mitgebrachten Musik im Blues zu transformieren beginnt, wie sich Klage in Hoffnung verwandelt, analog zu manchen Psalmgebeten in der biblischen Tradition.
Steinmetz zeigt an mehreren Beispielen auf, wie sich der Jazz auf abenteuerlichen Wegen aus der Kirche hinausentwickelt und doch immer wieder zu ihr zurückgefunden hat: vom Gospel in den Kirchen ehemaliger Sklaven zur Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung («We Shall Overcome ») und von dort zu den Montagsdemonstrationen und Friedensgebeten der Leipziger Nikolaikirche. Oder vom kirchlich geprägten Jazz eines Duke Ellington auf die Showbühne und mit den « Sacred Concerts» zurück in die Kathedrale.
Eine Jazzgrösse, die dem Autor besonders viel bedeutet, ist der Saxophonist John Coltrane, der wie kaum ein anderer Musiker zeitlebens um Wahrheit und Wahrhaftigkeit gerungen hat. Anhand von musiktheoretischen Betrachtungen George Russells zeichnet der Autor die Entwicklung Coltranes von der Stilrichtung des Bebop über den Modalen Jazz bis zu seiner ganz persönlichen, tief in der spirituellen Praxis verankerten Musiksprache nach. Russell hatte bereits in den 1950er Jahren die Bedeutung von Gefühl und Seele im Jazz betont und diesen nicht nur als horizontale, auf einer Timeline basierende Tonkunst gesehen, sondern als einen « vertikalen Zustand ». Dort, wo Jazz und Spiritualität zusammenkommen, wachsen die Musizierenden über sich hinaus, und für die Hörenden scheint die Zeit stillzustehen. Auf diese Weise verbindet sich der spirituell empfängliche Mensch mit dem Numinosen, Göttlichen.
Uwe Steinmetz versucht mit Bildern auszudrücken, was eigentlich nur die Musik leisten kann: dass beim Jazz, der nicht nur nach Noten interpretiert, sondern mit existenzieller Hingabe gespielt wird, Musik und Musiker zu einer Einheit verschmelzen wie etwa bei Coltrane, für den die Motivation seines Spiels eine fortdauernde Meditation über die göttliche, alles vereinigende Kraft war.
Was das Buch so überzeugend macht, ist nicht nur die Weite des Horizonts und die Tiefe der Betrachtungen: Steinmetz lässt seinen Glauben nicht aussen vor, sondern bezieht ihn sinngebend in seine Ausführungen ein. Und er tut es mit einer Dringlichkeit und Glaubwürdigkeit, wie sie in Kirchen nur selten zu finden ist. Wer nach der Lektüre Lust hat auf mehr, findet im Anhang nicht nur ein Literaturverzeichnis zum Weiterlesen und die 50 Hörbeispiele übersichtlich aufgelistet, sondern auch eine praktische Anleitung für gemeinsame Hörerlebnisse mit fünf Playlists zu Themen wie « Klage und Gebet » oder « Mystik im Jazz ». Darüber hinaus bietet das Buch eine chronologische und
René Weisstanner ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Küsnacht ZH, wo er regelmässig Jazzgottesdienste organisiert.
ERSCHIENEN IM BREFMAGAZIN // https://brefmagazin.ch/ 10/2023 S. 52-55, Fachbücher