Besonders in deiie Musik von Conlon Nancarrow, Steve Reich und den großformatigen Werken Olivier Messiaens kann ich mich seit meinen Studienjahren hörend immer wieder versenken; die Musik George Russells bildet dabei eine besondere Brücke zwischen dem Jazz und der komponierten Avantgarde des 20. Jahrhunderts.
Meine Begegnung mit südindischer klassischer Musik in einem Auslandssemester als Jazzlehrer im Jahr 1998 an einer südindischen internationalen Schule,half mir während meines Studiums, mich künstlerisch mit dieser “innerlichen Art” des Musikerlebens mit meinem Instrument, dem Saxophon zu verbinden. Ich war zutiefst bewegt von dieser Musik, die ich nur hörend und komplett ohne notierte Grundlage erlernen musste, und spürte dabei auch körperlich, wie einige Intervalle einer Melodiewendung bestimmte Emotionen (chakren) in mir auslösten. So gern ich weiterhin Jazzstandards hörte und übte, es war die Kraft dieser modalen Melodien, die mich packten und mich auf eine neue Spur mit meinem Instrument führten.
Am Ende meines Aufenthaltes den ich mit einer längeren Reise in den Osten und Norden abschloss, besuchte ich den indischen Saxophonisten Kadri Gopalnath, einem Saxophon-Pionier in der Südindischen Musiktradition dessen leidenschaftliches Spiel und einzigartige Saxophonklangfarben zwischen Falsetto-Gesang, Violine oder Nadaswaram zu einer stetigen Inspiration wurden. Auch in den Folgejahren spielte ich mit eigenen Ensembles und als Solist in Nordindien, besonders bleiben mir Konzerte mit dem Sänger Hariharan, der Pianistin Pauline Warjri und dem Shillong Chamber Choir für den Weihnachtsempfang des indischen Premierministers oder ein Hauskonzert für Rajmohan Gandhi in Erinnerung. Prägend war die Erfahrung wie intensiv das Publikum dabei mitfühlt, mit dem ganzen Körper in die Musik hinein versunken „hört“ und überraschende spannende Stellen mit spontanem Beifall quittiert. Ein organisches Verhältnis zum körperlichen Empfinden von Musik, von dem heraus es gar nicht denkbar ist, das Kratzen im Hals verschämt für einen Husten-Chor in den Pausen zwischen einzelnen Sätzen einer Sinfonie zu entladen oder grundsätzlich lärmende standing ovations am Ende einer überbordend virtuosen Schlusskadenz abzuhalten. Beim Hören indischer Musik dagegen hatte ich wie im Jazzkonzert schnell das Gefühl einer intensiven hörenden Gemeinschaft, die Grenzen zwischen den Ausführenden und den Hörenden verschwinden zu Gunsten eines gemeinsamen rituellen Erlebnisraumes in dem die Hörenden bei sich bleiben können.
Dieses rein auf Hören basierte improvisierende Musizieren verband für mich zum ersten Mal nicht nur das Erleben von innerlich „erhörter“ Musik mit instrumentaler Virtuosität, sondern auch mit Spiritualität. Die aus Ragas bestehenden Melodien die ich spielen konnte, waren Bhajans, religiöse hinduistische Gesänge. Diese sind aber zugleich ein großer Bestandteil der populären Musikkultur jenseits abgesteckter religiöser Grenzen, also mit Europäischem Vokabular ausgedrückt, eine Art Kanon geistlicher Volkslieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Amazing Grace“. Hariharans Version eines Anbetungsliedes für den Gott des Lebens, Ram (Hanuman Chalisa), überschritt als erstes religiöses Lied die Zahl von einer Milliarde Youtube Klicks, bis heute wurde es über drei Milliarden Mal abgespielt.
Da spirituelle Empfindungen und Musik derartig eng kulturell verwoben sind, wurde ich in Indien öfters gefragt, warum ich nach meiner Rückkehr nach Europa nicht versuchen wolle, die religiöse Musik meiner Heimat, die Melodien der christlichen Kirchen zu interpretieren. Die Idee, dies künstlerisch umzusetzen begleitete mich nach meiner Rückkehr nach Berlin, und ich begann Kirchenmusik als Saxophonist und Komponist zu entdecken und mitzugestalten. Es wurde auch zum Zentrum meines künstlerischen Fokus im darauffolgenden Studium am New England Conservatory in Boston bei George Russell, der mich auf meine spirituellen Wahrnehmungen in der Musik ansprach und mich dazu inspirierte, diese für ihn essentielle Dimension im Jazz weiter zu erkunden. Die Begegnungen in Indien halfen mir auch, über die die gesellschaftliche und identitätsstiftende Dimension von Kunst zu reflektieren und ich engagierte mich in den Folgejahren für den Aufbau von Netzwerken im Jazzbereich und für die NGO „Initiatives of Change“ in Caux(CH).
Nun folge ich seit fünfundzwanzig Jahren diesen für mich lebensverändernden Spuren des innerlichen Erlebens von Musik und ihren spirituellen und gesellschaftlichen Horizonten und mir begegnen dabei immer mehr offene Fragen als klärende Antworten. Als Christ in protestantischer Tradition habe ich aber erfahren können, was Martin Luther theologisch der Musik zusprach: Musik kommt vor dem Wort, wie der Körper vor der Tat, beides ist uns Menschen gegeben, und hörend können wir ein Leben lang damit zubringen, die uns umgebenden Klänge mit unserem Körper ganzheitlich zu verbinden, als Hörende, Musizierende und Betende.
26.11.2023